Es steht in den Sternen

10.03.2020

Damals saß ich gerade auf der Dachterrasse meines Hostels. Es war in etwa 6 Uhr, die Sonne ging langsam unter und die Hitze, die tagsüber immer heftiger wird, wurde langsam erträglich. Unter mir sind die Mädchen gerade zur Study Time gerufen worden, während ich mir eine Stunde frei genommen habe, um den Kopf frei zu kriegen. Es war ein Tag wie jeder andere in meinem wunderbaren Alltag, der mich immer glücklicher machte. Es hat sich so viel geändert, aber dazu später. Ein letztes Mal mitnehmen lassen in die unendliche Weite und Tiefe von Kuppayanallur, Tamil Nadu und Indien…

Ich bin gerne auf der Dachterrasse und dass die Tür aus den Angeln gebrochen ist, macht alles einfacher. Sonst müsste ich die Sister ständig nach dem Schlüssel fragen… Es ist alles andere als still. Man hört die verschiedensten Vögel lärmen, die Autos oder Motorräder von der nahen Straße, die ab und zu vorbei kommen oder die neun Grundschulkinder, die unten noch Schmarrn machen. Es ist Vollmond und er hängt jetzt schon zwischen den Palmen, ganz in weiß. Von hier oben kann man bis nach Ongur blicken, dem Ort, wo die Grundschule ist und das ehemalige Hostel der Kleinen. Man kann die schmale Straße erahnen, die dorthin führt. Gesäumt von kleinen Bäumen, die von den Schülern letztes Jahr gepflanzt wurden und an einem kleinen See vorbei. Davor liegt die Farm von der Schule, wo jetzt der Reis fast schon kniehoch steht. Ganz in grün. Unterbrochen von Palmen, Bananen oder Guavenbäumen. Und diese grüne Idylle steckt voller Geschichten.

Vieles können Fotos nicht einfangen. Mit dem Handy erst recht nicht.

Nach dieser langen Zeit hier sind es nämlich vor allem Geschichten und Schicksale von Personen, die einen bewegen. Weniger Erlebnisse oder Abenteuer, wobei diese natürlich auch. Aber Geschichten kann man gut teilen und in die Welt hinaus tragen und das möchte ich ein bisschen. Dabei habe ich alle Namen geändert.

Nächstes Jahr werden die Grundschüler nicht mehr im Hostel sein, da fünf von ihnen in die sechste Klasse kommen und es sich für die anderen alleine nicht lohnt. Was mit ihnen passiert, kann keiner so genau sagen, da sie alle mit irgendeinem triftigen Grund im Hostel sind. Welche Eltern würden ihre kleinen Kinder so ohne weiteres hergeben? Ehrlich gesagt mache ich mir vor allem Sorgen um Keerthana, 5.Klasse und ihren kleinen Bruder Prakash, 3. Klasse, da sie nicht mal ein richtiges Zuhause haben. Wenn Ferien sind, bleiben sie meistens alleine im Hostel oder werden zu irgendwelchen Verwandten gesteckt, denn ihr Vater ist tot und ihre Mutter sorgt nicht allzu gut für sie. Es wird gemunkelt, dass sie den dritten Mann hat, was hier charakterlich als ein großer Makel gesehen wird. Sie hat sich trotz Besuchertagen, Abholungen und anderem noch nie hier blicken lassen. Ab und zu dürfen die Kinder telefonieren, aber Keerthana und Prakash können das nicht. Letztens haben wir Prakash`s 7.Geburtstag gefeiert an einem Tag, der wahrscheinlich gar nicht sein richtiger Geburtstag ist. Da seine Mutter Analphabetin ist und war, bei seiner Geburt, hat man einfach einen zufälligen Tag auf seine Identifikationskarte geschrieben. Jetzt, wo alle Kinder nach Hause fahren sollen, denn auch in Indien wirkt sich der Corona-Virus jeden Tag mehr auf die Bevölkerung aus, sind von den Kleinen wieder nur er und seine große Schwester übrig.

Preetha Miss, eine Lehrerin, die etwa 26 Jahre alt ist, ist noch nicht verheiratet, was für das hiesige Umfeld nicht der normale Zustand ist und deshalb ein Grund für andere, über sie zu reden. Vor ihrer ein Jahr älteren Schwester wird sich das aber nicht so schnell ändern und so schläft sie zusammen mit beiden gesundheitlich nicht so fitten und schon erheblich älteren Eltern in einem Raum. Sie meint, sie will nicht unbedingt einen Mann haben. Jedenfalls nicht so schnell, aber wer weiß, ob sie mit der Situation gerade wirklich so glücklich ist. Es gibt aber einen Mann in ihrem Leben, jemandem von dem sie träumt. Sie sind zusammen in dieser Schule in die gleiche Klasse gegangen, haben aber damals kaum miteinander gesprochen. In der 11. Klasse hat sein Bruder aus Liebeskummer Selbstmord begangen und damit ihm Vertrauen in Frauen und Liebe genommen, wie es scheint. Die Lehrerin meinte, er würde sich auch für sie interessieren, aber kann sich deshalb nicht an sie binden und seine Eltern würden ihren einzigen Sohn nicht gehen lassen. Sie haben nicht so viel Kontakt, manchmal telefonieren sie, aber er nimmt ihre Anrufe gerade nicht an.

Sneha, 10.Klasse, ist extrem gut in der Schule. Pflichtbewusst und ehrgeizig. Und damit ist sie eine Ausnahme unter den vielen Schülern, die man hier zum Lernen zwingt. Oder, nach der Ansicht vieler Fathers und Lehrer, zwingen muss. Auch ihre kleine Schwester Sumathi ist, obwohl sie ihren komplett eigenen Kopf hat was Schule und Unterricht anbelangt und am liebsten nur Schmarrn macht, auch ein sehr kluger Kopf. Sie redet am liebsten durch, egal über was und ihr gebrochenes Englisch stört sie dabei kaum. Sumathi ist eine begeisterte Bastlerin und in gewisser Hinsicht die beste Tamil-Lehrerin, die ich hatte. Als jetzt schon vor ein paar Monaten ihr Vater außerhalb den Besucherzeiten ins Hostel kam, herrschte bei beiden große Aufregung. Denn lange Zeit ist ihr Vater abgetaucht. Nachdem ihre Mutter gestorben ist, begann er mehr und mehr zu trinken. Eines Nachts hat er im Rausch ihr Haus in Brand gesteckt, was seit dem nur noch eine Ruine ist. Deshalb ist er und der mütterliche Teil der Familie zerstritten. Und es ist auch nicht ganz klar, wer die beiden wie finanziert, denn er ist Tagelöhner und hat keine richtige Ausbildung. Anscheinend half ihnen letztes Jahr einer der Fathers, doch dieses Jahr, wo gerade die Fees eingesammelt werden, ist vor allem Sumathi auf der Liste mit dem Fragezeichen. Vor einer Woche habe ich mich mit ihrem Vater ein bisschen unterhalten und obwohl er die Schule abgebrochen hat, kann er erstaunlich gut Englisch und machte sogar Witze. Letztens hatten sie mir erzählt, dass es jetzt aber eine Chance gibt, ein neues Haus zu bauen, finanziert von den Sisters in ihrem Dorf, und damit würden sie auch aus dem Hostel raus kommen, da ihr Haus eigentlich in Laufreichweite ist.

Eine Woche später, Montag 16.03., erreichten mich Gerüchte, die mich auf jener Dachterrasse einholten. Die Sonne war längst untergegangen und der Sternenhimmel über mir spannte sich wortwörtlich wie ein Zelt. Und trotzdem brach es über mir zusammen, als mich der Anruf meiner Betreuerin aus Deutschland erreichte, dass ich sobald es geht nach Deutschland zurückkehren muss. Ich konnte es gar nicht fassen, es kam so plötzlich und ich hätte niemals damit gerechnet. Selbst die bleibenden etwas mehr als drei Monate haben sich nach zu wenig Zeit angefühlt und ich dachte sogar daran, sie irgendwie zu verlängern. Aber in derselben Nacht habe ich dann zwischen meinem Zimmer (Strom) und der Dachterrasse (Sternenhimmel und Kühle) hin und her pendelnd mit Samira (meine Vorfreiwilligen) und Alma (ihrer Freundin), die mich noch vor ein paar Tage besucht haben, den Rückflug gebucht. Und innerhalb der nächsten drei Tage, die sich nach den längsten Tagen meines Lebens anfühlen, habe ich gepackt, Tschüss gesagt und bin über Chennai nach Deutschland geflogen. Ich konnte mich nicht mal richtig verabschieden von meinen Schulkindern, da die Schulen ab dem nächsten Morgen geschlossen hatten und ich in der ganzen Aufbruchsstimmung mein Abschied auch ein bisschen untergegangen ist. Und was auch irgendwie niemand verstehen konnte dort, warum es mir so nahe geht oder was es eben bedeutet zurück nach Deutschland zu gehen, wo gerade eh alles auf dem Kopf steht und es gefühlt jeden Tag schlimmer wird. Abgesehen davon, dass Deutschland wirklich eine komplett andere Welt ist.

Jedenfalls bin ich jetzt hier. Und kann es nicht ganz fassen. Dieser angefangene Blogeintrag war ein letztes Relikt aus meiner Zeit dort, mit der ich noch alles andere als abgeschlossen habe. Das und auch der Grund, dass ich genügend so unvorbereitete Abschiede hatte in letzter Zeit, lass ich diesen Blog noch offen. Ich hab noch genügend über Tamil Nadu, Kulturen und mein Wiederankommen zu erzählen, auch wenn meine konkrete Zeit im Projekt vorbei ist. Also bleibt dabei, wenn ihr wollt…

Vielen Dank an alle, die mich in diesen viel zu kurzen acht Monaten begleitet haben und ich freu mich auch in Zukunft noch umso mehr über jeden, der sich dafür interessiert, was ich erlebt habe und auch was alles noch so kommt!

Ein Bild von meinem Abschied in Chennai (alle anderen Bilder kommen erst mal später, dank dem ganzen anderen Stress des Zurückkommens und Abschied Nehmens…) mit Father Joseph, Father Igni, Samira, Alma und meinem Mentor, Father Vasanth

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