Winterreise

02.01.2020

Selber kenne ich ganz gut, wie nach dem Sylvester das neue Jahr einen ganz schön einnimmt. Mit guten Vorsätzen, Plänen und wichtigen Beschäftigungen, wie Ausschlafen. Vielleicht interessieren dann Erzählungen und Erinnerungen an den Advent nicht so, man will ja das große Lebkuchen und Schokolade schlemmen schnellstmöglich aus seinem Gedächtnis verbannen. Umso mehr wird es euch zu hören freuen, dass das, was ich erzähle mit dem nicht viel zu tun hat.

Es war erschreckend wie banal die ersten Adventstage vor allem nach der Jubilee-Function waren. Advent hat, im Gegensatz zu so vielen anderen religiösen Festen hier kaum eine Bedeutung, überlagert von einer heftigen Erkältung, Regen und Schlafbedarf. Und zum ersten Mal habe ich einen Kuppayanallur-Koller bekommen. Ich wollte raus.

Und im Vorraus habe ich das größte Weihnachtsgeschenk bekommen, mit dem ich in diesem Kontext rechnen konnte: Mary, die bei manchen Schwierigkeiten immer ein Ohr für mich hatte und vor 10 Jahren mit den Jesuiten im Standort Ranipet ein Jahr gelebt hat, bot mir an, sie und ihren Mann Turgay auf einer Reise durch verschiedene Jesuitenstandorte in Tamil Nadu zu begleiten und so machte ich mich nach mehr als 40 selbstgeschriebenen Weihnachtskärtchen Mitte Dezember auf nach Chennai, gespannt auf das, was mich erwartet.

Unsere Reiseroute schloss einige Standorte der Jesuiten ein (Ranipet, Harur, Mettala, Palayamkottai und Dindigul) an denen entweder befreundete Jesuiten besucht oder der Stand der Projekte, die die beiden durch gesammelte Spendengelder mitfinanzieren geprüft wurden. Außerdem konnte man in Pondicherry und Mahabalipuram wieder ein bisschen westliche Kultur genießen und Tourist sein. Wie viel ich in diesen Tagen erlebt und erfahren habe, bis zur Gründung einer eigenen Jesuitenprovinz in Chennai, ist eigentlich kaum vorzustellen. Die Tage waren vielseitig, unglaublich unterschiedlich und wahnsinnig intensiv. In dem Kontext fiel das Weihnachten (das hier auch nicht die gleiche Bedeutung hat) ohne meine Familie nicht so ins Gewicht und ich habe in den beiden zeitweise wunderbare Volunteer-Eltern gefunden.

Hier das Volunteer-Trio:)

Am Anfang war es vor allem schön und erleichternd, dass ich nicht mehr alleine als „Weiße“ im Mittelpunkt stehe, sondern auch einfach mal nur zuhören kann ohne dass ich gleich wieder in Handlungszwang stehe. Ebenso einfach mal deutsch zu reden, oder reden über mehr als das Essen und Wetter insgesamt. Man gewöhnt sich außerdem so an die dunklere Haut, dass einem Europäer doch sehr weiß vorkommen, weshalb ich diesen Ausdruck überhaupt zum ersten Mal verstanden habe. Und in dem Kontext war vieles für mich einfacher und angenehmer, Begegnungen, Functions und die alltäglichen Essen mit den Fathers. Letzteres wurde sogar etwas, worauf ich mich freute, denn durch Marys offene Art und Turgays Ehrlichkeit entstanden sehr lebhafte und interessante Gespräche und Diskussionen, die aber für manche nicht immer angenehm waren.

Außerdem bin ich von der Rolle, an die ich mich gewöhnt habe wieder herausgefallen und immer mehr und öfter zu einer Vorzeigefigur/(-puppe) geworden, was seinen Höhepunkt fand an der Christmas Carol Sing Competition im College Mettala, an der ich vor der versammelten College-Besetzung mit Mary und Turgay Chief Guest war. Ich wurde nach der Tradition mit Blumenkranz, Handtuch und sogar Trophäe mit meinem Namen geehrt und als „Schönheitskönigin“ vorgestellt. Wahnsinn. Ich konnte darüber nur lachen, anders hielt ich es in dieser Position nicht aus und erst recht nicht nach drei Stunden reiner tamilischer, teilweise nicht so gut gesungener Weihnachtslieder. Und dieses von Function zu Function gereicht werden ist ganz schön anstrengend.

Der Blick auf die Bühne in Mettala einen Tag später…

Am gleichen Tag in der Früh wohnten wir nämlich der Weihnachtsfeier der Higher Secondary School in Harur bei, aber Weihnachtsfeier ist eigentlich nicht das richtige Wort dafür. Als wir dort mit dem Auto ankamen, wurden wir schon empfangen von Trommelschlägen, Tänzern, Weihnachtsmännern und einem Spalier der Schüler, an denen wir entlang laufen mussten. Im Begrüßungsritual bekamen wir zusätzlich Sandalpaste und rotes Pulver auf die Stirn gemalt, eine Rose, Zucker zum Essen und eine Kerze mit Blumen wird angezündet, deren Wachs vor dem Eingang vergossen wird. Danach kamen wir auf Plastikstühle neben ein paar der Fathers gegenüber den in Reih und Glied sitzenden Schülern und es wurde wieder Programm vorgeführt und Weihnachtsmänner kamen, tanzten und schmissen mit Süßigkeiten um sich.

Schüler in Arur…

Wir hatten aber auch unseren Spaß als Touristen und besuchten zusammen mit Father Lawrence den südlichsten Punkt unserer Welt bzw. des indischen Kontinents:

Kanjakumari/Kap Komarin

Umgeben von Touristen aus allen möglichen Ecken Indiens, keinen einzigen Europäern, und vielen Pilgern, in rote Sarees und T-Shirts gekleidet, setzten wir über auf den Felsen mit dem Vivekananda-Denkmal (einem hinduistischen Guru) neben der Tiruvallur-Statue (einem der größten tamilischen Gelehrten). Und Versunken, aber nicht Verloren sein, in diesem indischen Treiben an Ständen mit Kettchen, Stoffen, Gewürzen und Täschchen vorbei, bis zum Baden in den Ghats am Ufer zwischen den Pilgern war wunderschön und ein Ort mehr, an dem ich ein bisschen meine Seele gelassen habe (siehe Beitragsbild).

Als wir einen Tag später einen Hindu-Tempel in Palayamkottai (Tirunelvelli) besucht haben, hatten wir wieder typisch indisch Glück. Der Großvater einer Schülerin aus dem Jesuitencollege dort, der den Tempel gut kennt und Zugang zu allem hatte (deshalb wahrscheinlich Brahmane) hat uns eine ausführlichste Privat-Führung gegeben und uns anschließend mitgenommen zum Haus seiner Nichte, die eine Schneiderei führt, damit wir unsere Sachen nähen lassen konnten (Mary einen neu erworbenen Saree und ich zwei Chudidars zum Anpassen).

Der Tempeleingang

Was für mich ein erneuter kleiner Kulturschock war, war der plötzliche Wechsel am Tag nach Weihnachten von der einfachen Umgebung mit den Leuten (wir haben im Hostel in Dindiwanam mit den Tribals der Irular ein neues Gebäude eingeweiht) in das wohlhabende Indien in Pondicherry. Vieles in mir hat sich gegen die weiche Matratze, das warme Wasser aus der Dusche, den Aufzug und die polierten Flächen gesträubt. Und was auch neu für mich war, war nach fünf Monaten wieder komplett selbst verantwortlich sein für meine Ausgaben. Nichtsdestotrotz habe ich mich überwunden und in Bücher und Schmuck investiert und meinen Rucksack um einiges schwerer gemacht.

in einem der malerischen Buchläden

Pondicherry ist sehr angenehm wegen diesem typisch französischen Hauch, westlicher Freiheit und der Seeluft. Das Gerummel der Leute, die händchen-haltenden Paare und frischer, europäischer Kaffee ohne Zucker war wunderbar angenehm. Nur gibt es natürlich auch die andere Seite, sichtbar durch einen Kanal, der das koloniale Heritage-Viertel vom indischen Chaos trennt, und der so versifft ist, dass schmutzig schon kein rechtes Wort dafür ist. Er blubbert regelrecht vor Gasen.

die indische Seite Pondis

Am 28. Und 29. Dezember fand dann ein historisches Ereignis statt, dem ich beiwohnen durfte. Und zwar wurde die Chennai Mission, die bislang Teil der Madurai Provinz war, eine eigenständige Jesuiten Provinz. Deshalb versammelten sich mehr als 350 Jesuiten auf dem Campus des Loyola Colleges um diversen Events beizuwohnen, von Gottesdiensten, Programm- und Ideenvorträgen  bis zu Cultural Programm durchzogen von Kaffee-Pausen und gemeinsamen Essen, nach denen alles geplant wurde. Eineinhalb Tage lang. Das ganze Durcheinander und auch das erneute Stoßen auf die Fathers aus Kup, die ich immer noch nicht ganz lieb gewinnen konnte, hat mich zunächst einmal aus dem Konzept gebracht, zumal ich diverse Male extra erwähnt und sogar mit einem Riesengeschenk während des Honouring geehrt wurde. Dafür habe ich einige sehr nette und interessante Momente gehabt und Leute von beispielsweise Kilpennathur wieder getroffen (die cultural troup hat dort performed), was sehr schön und bereichernd war. Aber es hat mir eben auch gezeigt, dass die Tamilen das Prinzip „Volunteer“ nach europäischer Perspektive nicht ganz nachvollziehen können. Zu dritt haben wir zwar eine Rede darüber gehalten, was es für uns bedeutet aus unserer westlichen Welt zu kommen und die Wahl zu treffen uns diesen anderen Realitäten auszusetzen und mit und für die Leute zu leben, statt gefangen zu sein in der Blase an eigenen Problemen.

Das Bild wurde von einem Staff-Member aus Kup aufgenommen während der Rede…

Trotzdem (oder vielleicht auch gerade deswegen) habe erst Mary und Turgay und dann auch ich vor der versammelten Truppe an Jesuiten, Scholastikern und anderen Mitarbeitern eben ein Riesenpaket als Geschenk überreicht bekommen, was sich als ziemlich edle Reisetasche entpuppte. Da entscheidet man sich für einen einfachen Lebensstil, verzichtet und lebt dort, wo alles an Geld knapp ist, selbst in der Institution der Jesuiten und bekommt ein teures Geschenk, mit dem ich gerade gar nichts anzufangen weiß (wobei inzwischen hab ich ein paar Ideen). Trotzdem.

Nach zwei Tagen in Mahabalipuram, in endgültiger Gemeinschaft weniger europäischen Touristen, habe ich mich dazu entschlossen, frühzeitig zum 01.01.2020 wieder nach Kuppayanallur zurückzugehen, um mich den Herausforderungen zu stellen, die auf mich warten. Um den Frieden in mir vor Ort zu finden und angesammelte Ideen und Vorsätze zu verwirklichen. „You should be in peace with yourself and what you do“, gab mir der neue Provincial Father Jebamalai mit auf den Weg. Und es ist ein guter Gedanke für das neue Jahr, und alles was auf mich zukommt.

Genauso wünsche ich euch allen einen guten Start, frohe und bereichernde Gedanken und Inspiration in schwierigen wie guten Zeiten! Ich freu mich von euch zu hören, ob per Whatsapp, Mail oder Kommentar. Danke, eure Hannah!

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